Fallbesprechung: TV Produktionsfirma Eikon Nord
Als No SLAPP Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP handeln könnte.
In Rücksprache mit den Betroffenen veröffentlichen wir diese Vorfälle strategischer rechtlicher Einschüchterung. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert und anonym zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch (SLAPP) betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.
Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zu dem Fall der TV Produktionsfirma “Eikon Nord” sowie Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP im Sinne der EU Richtlinie sowie der Empfehlungen des Europarats handelt.
Hintergrund des Falls
Eine TV-Produktionsfirma produzierte 2023 die Sendung "Justice - Die Justizreportage" mit einem Beitrag über eine Auseinandersetzung zwischen zwei Brüdern bezüglich der Betreuung ihres Vaters. Die Sendung wurde bei RTL ausgestrahlt.
Der Fall stellt sich wie folgt dar: Ein Bruder (B1) lebt mit dem betreuungsbedürftigen Vater auf einem Bauernhof. Der zweite Bruder (B2) besitzt eine Betreuungsvollmacht, informiert aber seinen Bruder nicht über wichtige betreuungsrelevante Angelegenheiten wie Medikamente oder die Einrichtung einer Pflegestufe. Er ist zugleich im Bereich der Beratung von Senioren beruflich tätig.
B1 hatte bereits mehrere rechtliche Schritte unternommen, um ein erweitertes Mitspracherecht bei der Betreuung zu erhalten, war jedoch überall auf Widerstand gestoßen.
Die Produktionsfirma recherchierte zum Thema Betreuungsrecht und stieß auf diesen Fall. Sie kontaktierte beide Brüder und bot B2 die Möglichkeit einer Stellungnahme sowie eines Kameragesprächs an. Bereits in der Recherchephase erhielt die Produktionsfirma ein Schreiben einer von B2 beauftragten Rechtsanwaltskanzlei, das eine Verhinderung der Berichterstattung zum Ziel hatte. Dabei kürzte die Produktionsfirma in der Reportage den Namen des einen Bruders ab, nannte den Namen des anderen Bruders gar nicht und zeigte den Vater nur verpixelt.
Nach Ausstrahlung der Sendung erwirkte B2 beim Landgericht München 1 eine einstweilige Verfügung gegen die Produktionsfirma. Das Gericht erließ ein umfassendes Verbot der Veröffentlichung.
Die Produktionsfirma legte Berufung ein, da das Urteil weitreichende Folgen für die Pressefreiheit haben könnte. Die Begründung der Produktionsfirma: Eine vollständige Verhinderung der Identifizierbarkeit sei in Zeiten von Internet und Social Media praktisch unmöglich, selbst bei umfassender Anonymisierung.
Das Oberlandesgericht München bestätigte jedoch das Urteil des Landgerichts und fasste einen Beschluss, in dem es der Produktionsfirma signalisierte, dass weitere rechtliche Schritte aussichtslos seien und zu hohen Kosten führen würden. Aufgrund dieses erheblichen Kostenrisikos entschieden sich die Beteiligten, den Fall nicht weiterzuverfolgen und die Berichterstattung zurückzuziehen.
Die rechtliche Auseinandersetzung beschränkte sich nicht hierauf. Weitere Rechtsstreitigkeiten im Zusammenhang mit diesem Fall folgten:
Ein landwirtschaftlicher Zeitungsverlag hatte ebenfalls über den Fall berichtet, was ebenfalls im Wege einer einstweiligen Verfügung untersagt wurde.
Die Produktionsfirma, B1 und eine Lokalzeitung wurden zusätzlich wegen Verleumdung verklagt.
B2 stellte Strafanzeige gegen seinen Bruder B1 wegen übler Nachrede, woraufhin dieser eine Vorladung zur Polizei erhielt.
Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2
Betroffene öffentliche Aktivität und Geltungsbereich
Die TV-Produktionsfirma wurde für ihre journalistische Tätigkeit rechtlich belangt. Es handelt sich um einen zivilrechtlichen Anspruch aus §§ 823 Abs. 1, 1004 Abs. 1 BGB in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1, 2 Abs. 1 GG und Art. 8 EMRK. Der Fall fällt damit grundsätzlich in den Geltungsbereich der EU-Richtlinie 2024/1069 zu strategischen Klagen gegen öffentliche Beteiligung.
Die betroffene Sendung befasste sich mit dem Thema Betreuungsrecht und dem spezifischen Fall der Brüder B1 und B2. Die Reportage fällt in den Schutzbereich der Pressefreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG), die in enger Beziehung zur Meinungsäußerungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 S. 1 Var. 1 GG) steht.
Öffentliches Interesse
Der Fall betrifft Themen von öffentlichem Interesse im Sinne der EU-Richtlinie:
- Grundrechte: Die Reportage behandelt das Spannungsfeld zwischen Persönlichkeitsrechten und der Medienfreiheit. Dabei geht es auch um die Möglichkeit für B1, öffentlich über seinen Fall zu sprechen
- Öffentliche Gesundheit: Das Betreuungsrecht ist dem Bereich der öffentlichen Gesundheit im weiteren Sinne zuzuordnen. Die Reportage thematisiert Defizite in der Versorgung betreuungsbedürftiger Personen.
- Relevanz für die Öffentlichkeit: Die Tatsache, dass eine Person eine Funktion in der Seniorenarbeit innehat, während ihr vorgeworfen wird, die Betreuung des eigenen Vaters zu vernachlässigen, ist für die Öffentlichkeit von Interesse.
Allerdings ist zu beachten, dass sich die Reportage auch mit einem familiären Konflikt beschäftigt, der teilweise die Privatsphäre betrifft.
Art und Umfang der rechtlichen Maßnahmen
Der Produktionsfirma sah sich folgenden rechtlichen Schritten ausgesetzt:
- Anwaltliche Schreiben bereits in der Recherchephase, die auf eine Verhinderung der Berichterstattung abzielten
- Einstweilige Verfügung mit umfassendem Veröffentlichungsverbot vor dem LG München 1
- Ankündigung der Abweisung der Berufung durch das OLG München
Der Streitwert wurde auf 50.000 € festgesetzt, was für Persönlichkeitsrechtsverletzungen als ungewöhnlich hoch erscheint. Der Streitwert liegt zehnmal höher als die Standardwerte des § 52 Abs. 2 GKG (5.000 Euro) und des § 23 Abs. 3 Satz 2 RVG (5.000 Euro), die in der Regel maßgeblich sind.
Indizien für Missbräuchlichkeit
Die EU-Richtlinie 2024/1069 definiert mehrere Indikatoren für missbräuchliche Gerichtsverfahren. In diesem Fall sind folgende zu beobachten:
1. Mehrfache rechtliche Schritte: Die Produktionsfirma, der Bruder B1 und eine Lokalzeitung wurden wegen desselben Sachverhalts rechtlich belangt. Auch eine andere Zeitung erhielt eine einstweilige Verfügung. Dies deutet auf ein koordiniertes rechtliches Vorgehen hin, das über den einzelnen Fall hinausgeht.
2. Überhöhter Streitwert: Mit 50.000 € liegt der Streitwert deutlich über dem üblichen Rahmen für vergleichbare Fälle, was die Prozessrisiken und -kosten erheblich erhöht. Der Streitwert wird durch die Gerichte festgesetzt; diese folgen aber in der Regel dem von den Parteien vorgeschlagenen Streitwerten.
3. Umfang der Unterlassungsforderung: Das Gericht erließ ein umfassendes Verbot der Veröffentlichung, obwohl die Produktionsfirma journalistische Sorgfaltspflichten eingehalten hatte (Namensabkürzung, Nichtnennung, Verpixelung).
4. Verhinderungsabsicht: Die rechtlichen Schritte begannen bereits in der Recherchephase mit dem Ziel, die Berichterstattung vollständig zu unterbinden.
Gegenindizien
Es gibt jedoch auch Faktoren, die gegen die Einstufung als SLAPP sprechen:
1. Begründete Ansprüche: Der Antragsgegner (B2) hatte Erfolg vor Gericht. Das LG München hat seine Ansprüche anerkannt, und das OLG München beabsichtigte, die Berufung zurückzuweisen. Laut Erwägungsgrund 29 der EU-Richtlinie sollten begründete Ansprüche nicht als missbräuchlich im Sinne der Richtlinie angesehen werden.
2. Persönlichkeitsrechtskonflikt: Der Fall bewegt sich im Spannungsfeld zwischen dem Allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Bruders B2 und der Pressefreiheit der Produktionsfirma - ein klassischer Grundrechtskonflikt, der einer Abwägung bedarf.
3. Kein offensichtliches Machtungleichgewicht: Es klagt eine Privatperson gegen ein Medienunternehmen, was nicht dem typischen Machtungleichgewicht in SLAPP-Fällen entspricht.
4. Konsequente Rechtsdurchsetzung: Die Maßnahmen könnten als konsequente juristische Durchsetzung des Persönlichkeitsrechts im Rahmen eines Familienstreits interpretiert werden und nicht als strategisches Vorgehen gegen öffentliche Beteiligung.
Wirtschaftliche Folgen und Einschüchterungseffekt
Trotz der Gegenindizien gibt es wirtschaftliche Folgen und einen Einschüchterungseffekt:
1. Die Produktionsfirma verfügt über keine institutionelle juristische Unterstützung oder andere Mittel, um einen langwierigen Rechtsstreit zu finanzieren.
2. Das hohe Kostenrisiko hat die Produktionsfirma dazu bewogen, den Fall nicht weiterzuverfolgen und die Berichterstattung zurückzuziehen.
3. Die Produktionsfirma sieht durch die gerichtlichen Entscheidungen ihre künftige Berichterstattungsmöglichkeiten über juristische Vorgänge grundsätzlich gefährdet.
4. Der Fall wirft grundlegende Fragen zur Pressefreiheit auf, insbesondere zur praktischen Umsetzbarkeit der vom Gericht geforderten Anonymisierungsmaßnahmen im digitalen Zeitalter.
5. B1 ist nach dieser Entscheidung stark eingeschränkt, öffentlich über seine Situation zu sprechen.
Fazit und Einordnung
Auch wenn nicht alle Kriterien für einen klassischen SLAPP-Fall erfüllt sind, insbesondere da das Gericht die Ansprüche des Antragstellers B2 als begründet ansah, weist der Fall dennoch Elemente rechtlicher Einschüchterung auf. Der überhöhte Streitwert, die mehrfachen koordinierten rechtlichen Schritte gegen verschiedene Medien und der bereits früh erkennbare Versuch, die Berichterstattung zu unterbinden, könnten als Anhaltspunkte für rechtliches handeln interpretiert werden, die über die bloße Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten hinausgeht.
Der Fall zeigt ein grundsätzliches Dilemma auf: Wo endet die legitime Durchsetzung von Persönlichkeitsrechten, und wo beginnt die missbräuchliche Instrumentalisierung des Rechtssystems zur Unterdrückung öffentlicher Berichterstattung? Die Produktionsfirma sieht sich mit presserechtlichen Anforderungen zur Anonymisierung konfrontiert, die in der Praxis kaum zu erfüllen sind und damit faktisch zu einem Berichterstattungsverbot führen können.
Dieser Fall verdeutlicht, dass auch bei gerichtlich bestätigten Ansprüchen ein Einschüchterungseffekt entstehen kann, wenn die rechtlichen Mittel in ihrer Gesamtheit darauf abzielen, kritische Berichterstattung zu unterbinden oder mit unverhältnismäßigen finanziellen Risiken zu verbinden.