Fallbesprechung: Aktionsgemeinschaft Gleisdreieck e.V.
Als No SLAPP Anlaufstelle zum Schutz publizistischer Arbeit in Deutschland dokumentieren wir Fälle, bei denen wir kontaktiert wurden und Anhaltspunkte sehen, die darauf hindeuten, dass es sich nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie den Empfehlungen des Europarats um SLAPP handeln könnte.
In Rücksprache mit den Betroffenen veröffentlichen wir diese Vorfälle strategischer rechtlicher Einschüchterung. Maßgeblich sind dabei die Kategorien unseres Fragebogens, der über www.noslapp.de abgerufen werden kann. Der Fragebogen bietet Betroffenen die Möglichkeit, ihren Fall detailliert und anonym zu beschreiben und so abzuklären, ob sie womöglich von einem juristischen Einschüchterungsversuch (SLAPP) betroffen sind - bei Bedarf auch ergänzt durch persönliche Beratung.
Im Folgenden finden Sie Hintergrundinformationen zum Fall der Aktionsgemeinschaft Gleisdreieck e.V. sowie Anhaltspunkte dafür, dass es sich um einen SLAPP handelt.
Hintergrund des Falls
Seit mehreren Jahren wird das Bauvorhaben “Urbane Mitte” mit sieben Hochhäusern im Berliner Gleisdreieck geplant. Am Rande des Westparks des Gleisdreiecks, der ursprünglich als Ausgleichsfläche für die Bebauung des Potsdamer Platzes angelegt wurde, will eine Immobilienfirma sieben Hochhäuser bauen. Über zwei verschiedene Blogs klären Anwohnende über das Projekt auf und kritisieren mehrere Aspekte des Bauvorhabens.
Im Bebauungsplanverfahren werden negative Auswirkungen auf Stadtklima und Aufenthaltsqualität im Gleisdreieck prognostiziert. Das Vorhaben basiert auf einem städtebaulichen Vertrag von 2005, in dem das Bauvolumen beschrieben wird und Schadensersatzzahlungen vorgesehen sind für den Fall, dass das Bauvolumen nicht zustande kommt. Laut Aussagen der Senatsverwaltung geht der Vorhabenträger hierfür von einer Summe von ca. 150 Mio. € aus. In einem Gutachten, das Dr. Philipp Schulte im Auftrag der Aktionsgemeinschaft Gleisdreieck e.V. und der Berliner Naturfreunde e.V. erarbeitet hat, wird festgestellt, dass der städtebauliche Vertrag von 2005 gegen eine Grundregel des Baugesetzbuches (§1 Absatz 3) verstößt, nämlich, dass ein Bebauungsplan nicht auf einen Vertrag begründet werden kann.
Ein Gutachten von Prof. Dr. Beckmann im Auftrag des Bezirks Friedrichshain-Kreuzberg bestätigte das Gutachten von Dr. Philipp Schulte weitestgehend. Nachdem der Bezirk mit einer öffentlichen Planungswerkstatt das Bauvorhaben in Frage stellen und neu denken wollte, hat die Senatsverwaltung im Juni 2024 das Verfahren an sich gezogen.
Seit 2014 wurde auf https://gleisdreieck-blog.de (verantwortlich Matthias Bauer) der Planungsprozess mit bisher 153 Artikeln begleitet. Auf https://gleisdreieck-retten.de (verantwortlich Aktionsgemeinschaft Gleisdreieck e.V.) waren es seit November 2022 etwa 70 Artikel. Die meisten der 70 Artikel seit November 2022 sind auf beiden Internetseiten erschienen.
Seit Juni 2024 gab es drei Unterlassungsforderungen, zweimal richteten sie sich gegen die Aktionsgemeinschaft Gleisdreieck e.V., einmal gegen Matthias Bauer. Die Argumente wiederholten sich im Wesentlichen. Alle Behauptungen zu den Auswirkungen des Bauvorhabens auf das Stadtklima und die Aufenthaltsqualität im Park, die Missachtung von Natur- und denkmalschutz, zur Sicherheit des Bahnverkehrs, die recherchierten Zahlen zur Bodenspekulation sollten unterlassen werden. Doch für alle Aussagen gab es Belege, bzw. es handelte sich um zulässige Meinungsäußerungen.
In keinem Fall wurden Unterlassungserklärungen abgegeben, in keinem Fall zog der Gegner daraufhin anschließend vor Gericht. Vor den Unterlassungsforderungen gab es eine Abmahnung gegen Matthias Bauer wegen angeblicher Urheberrechtsverletzung.
Anhaltspunkte für SLAPP - nach den Kriterien der EU Richtlinie 2024/1069 sowie nach den Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2
Folgende Merkmale des Falls lassen darauf schließen, dass es sich im Sinne der EU Richtlinie und den Empfehlungen des Europarats um SLAPP handeln könnte.
Art und Umfang der rechtlichen Schritte
Die Betroffenen erreichten gleich mehrere anwaltliche Schreiben und Abmahnungen. Bemerkenswert ist, dass diese rechtlichen Schritte sowohl gegen das Bündnis als auch gegen Einzelpersonen gerichtet sind, ohne dass dabei konkrete Schadenssummen oder Streitwerte benannt wurden. Es fällt außerdem auf, dass mehrere unterschiedliche rechtliche Schritte aufgrund desselben Sachverhalts eingeleitet wurden, was auf eine koordinierte Vorgehensweise hindeutet.
Betroffene Aktivitäten und deren Kontext
Die rechtlichen Schritte richten sich gegen politische Meinungsäußerungen und presseähnliche Tätigkeiten, insbesondere gegen die Veröffentlichung von Informationen auf Blogs und in sozialen Medien. Die thematischen Schwerpunkte der Publikationen umfassen die Bereiche Grundrechte, öffentliche Gesundheit, Umwelt und Klima sowie spezifisch das Bauvorhaben am Berliner Gleisdreieck und damit verbundene Immobilienspekulation.
Weitere Einschüchterungen
Neben den rechtlichen Schritten wurde ein Engagierter der Aktionsgemeinschaft auf einem Berliner Blog als Lügner bezeichnet. Ein Autor dieses Blogs ist gleichzeitig Ansprechpartner für Presse und Öffentlichkeitsarbeit des “Urbane Mitte” Projektentwicklers.
Sorgfaltsvorkehrungen der Betroffenen
Die Betroffenen können nachweisen, dass sie bei ihren öffentlichen Aktivitäten die allgemein geltenden Regeln und journalistischen Sorgfaltsstandards eingehalten haben. Öffentlich gemachte Behauptungen des Aktionsbündnis stützen sich auf schriftliche Belege: auf offizielle, öffentlich zugängliche Dokumente aus dem Bebauungsplanverfahren. Weitere Belege stammen aus Akteneinsichten bei der Bezirks- und der Senatsverwaltung sowie in das Grundbuch.
Weitere besondere Merkmale des Falls
Mehrere weitere Aspekte weisen auf einen strategischen Versuch der rechtlichen Einschüchterung hin:
- Die Gegenseite nutzt ein deutliches Machtungleichgewicht aus, insbesondere durch finanzielle und politische Überlegenheit
- Die vorgebrachten rechtlichen Argumente erscheinen weitgehend unbegründet
- Es zeigt sich eine Strategie, durch Verfahrens- und Prozesstaktik die Kosten in die Höhe zu treiben
- Die rechtlichen Schritte zielen gezielt auf Einzelpersonen und auf die verantwortliche Organisation, ein kleiner Verein.
- Es liegt ein Muster wiederholter rechtlicher Einschüchterung vor, mit mehrfacher und koordinierter Anwendung rechtlicher Schritte auf Basis desselben Sachverhalts
- Die Gegenseite setzt extrem kurze Fristen zur Beantwortung ihrer Forderungen
Vulnerabilität der Betroffenen
Das bestehende Machtungleichgewicht in diesem Fall verschärft sich dadurch, dass die Betroffenen keine institutionelle juristische Unterstützung, keine Rechtsschutzversicherung oder andere Mittel zur Verfügung haben, um einen Rechtsstreit führen oder finanzieren zu können. Dies ist bereits die dritte juristische Auseinandersetzung in dieser Sache, nach einer Abmahnung wegen angeblicher Urheberrechtsverletzung und Verleumdung im Jahr 2023. Zudem ist bekannt, dass auch weitere Personen, nämlich der vom Bezirk beauftragte Gutachter, Prof. Dr. Beckmann, von demselben Kläger juristisch verfolgt werden.
Dem Gutachter, der für das Büro Gaßner, Groth, Siederer & Coll.tätig ist, sollten mit Androhung eines Ordnungsgeldes in Höhe von 250.000,- € bestimmte Aussagen in seinem Gutachten verboten werden, nämlich, dass die Investoren Schadensersatzansprüche in dreistelliger Millionenhöhe angekündigt hätten für den Fall, dass das Bauvolumen nicht zustande käme. Der Antrag des Vorhabenträgers wurde abgelehnt, erst im einstweiligen Verfügungsverfahren, dann im Hauptsacheverfahren vor dem Landgericht Berlin II. In der Urteilsbegründung heißt es, die angegriffenen Aussagen basierten auf dem Aktenstudium in der Bezirks- und Senatsverwaltung. Die dort enthaltenen Aussagen dienten als Grundlage für das Gutachten und seien im übrigen durch das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung aus Artikel 5 Absatz 1 GG geschützt. Inzwischen hat der Vorhabenträger Berufung gegen das Urteil eingereicht.
Das Vorgehen legt als Motive hinter den rechtlichen Schritten sowohl die Unterbindung konkreter Kritik als auch die allgemeine, existenzbedrohende Einschüchterung der beteiligten Personen und ihres Umfelds nahe.
Die Gesamtschau der Merkmale - insbesondere die Kombination aus unbegründeten Vorwürfen, der Ausnutzung von Machtungleichgewichten, die Mehrfachverfolgung desselben Sachverhalts und das gezielte Vorgehen gegen Einzelpersonen - deutet stark darauf hin, dass es sich hier um einen Fall von SLAPP im Sinne der EU-Richtlinie 2024/1069 sowie der Empfehlungen des Europarats CM/Rec(2024)2 handelt.
Das bedeutet nicht, dass dieser Fall notwendigerweise in den Anwendungsbereich der EU Richtlinie fällt - der Umstand, dass es sich um eine Auseinandersetzung im vorgerichtlichen Stadium handelt, spricht sogar eher dagegen. Dieser Beitrag soll lediglich darlegen, dass einige der Kriterien aus Richtlinie und Europarat-Empfehlungen erfüllt sind und dass dieser Fall somit als Veranschaulichung des Problems von SLAPP in Deutschland herangezogen werden kann.