Diskursvulnerabilität und Demokratie: Spannungsverhältnis Meinungsfreiheit und Strafrecht
Die No SLAPP Anlaufstelle ist täglich mit den Auswirkungen rechtlicher Einschüchterungsversuche auf die freie Meinungsäußerung konfrontiert. Dabei beschäftigen wir uns auch mit strategischen Einschüchterungen durch das Strafrecht, die zwar nicht in der EU Richtlinie abgebildet sind (diese ist auf zivilrechtliche Verfahren beschränkt), was den “Chilling Effect” dieses Phänomens jedoch nicht geringer macht, ganz im Gegenteil.
Die Juristin Prof. Dr. Dr. Frauke Rostalski analysiert passend dazu in ihrem bei Legal Tribune Online erschienenen Beitrag "Zugriffe auf die Meinungsfreiheit erleben Konjunktur" die fortschreitende Ausweitung des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts im Bereich der Meinungsäußerungen als einen besorgniserregenden Trend in Deutschland – ein Phänomen, das sie in den größeren Kontext einer "vulnerablen Gesellschaft" einordnet.
Die zunehmende Einengung des Meinungskorridors
Rostalski zeichnet ein detailliertes Bild der jüngsten Entwicklungen: Von der Verschärfung der Beleidigungstatbestände über die Ausweitung der Volksverhetzung bis hin zu neuen Sanktionsbewehrungen außerhalb des Strafgesetzbuchs. Der frisch ausgehandelte Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD setzt diesen Trend fort – etwa mit der geplanten Prüfung einer möglichen Strafbarkeit des Teilens von "Hetze" in geschlossenen Chatgruppen oder einem Verbot des Einsatzes von Bots zur Informationsmanipulation.
Parallel zu diesen regulatorischen Entwicklungen beobachtet die Strafrechtlerin eine veränderte Strafverfolgungspraxis: Wurden geringfügige Ehrangriffe gegen Politiker früher oft ignoriert oder auf den Privatklageweg verwiesen (man denke an Angela Merkels bewussten Verzicht auf Strafverfolgung bei Beleidigungen), werden dieselben heute konsequent angezeigt und von Strafverfolgungsbehörden mit erstaunlicher Härte geahndet.
Das Phänomen der "Diskursvulnerabilität"
Besonders erhellend ist Rostalskis Begriff der "Diskursvulnerabilität" – eine gesamtgesellschaftliche "besondere Verletzlichkeit im Gespräch", die sich in den letzten Jahren verstärkt hat. Diese Vulnerabilität manifestiert sich in der Tendenz, die eigene Meinung moralisch so aufzuladen, dass sie zum Teil der eigenen Persönlichkeit wird. Sachargumente werden dann schnell als persönliche Angriffe fehlgedeutet, was zu emotionalen statt sachbezogenen Reaktionen führt.
Dieses Phänomen hat weitreichende Konsequenzen für den demokratischen Diskurs: Menschen halten sich mit ihrer politischen Meinungsäußerung zurück, aus Furcht, in eine bestimmte Ecke gestellt zu werden. Der offene gesellschaftliche Austausch wird eingeschränkt – ein Umstand, der aus Sicht der No SLAPP Anlaufstelle besonders alarmierend ist.
SLAPPs im Kontext der Diskursvulnerabilität
Rostalskis Analyse eröffnet eine zusätzliche Perspektive auf das Phänomen der SLAPPs (Strategic Lawsuits Against Public Participation). Diese missbräuchlichen Gerichtsverfahren gegen öffentliche Beteiligung gedeihen in einem gesellschaftlichen Klima der Diskursvulnerabilität besonders gut. Sie verstärken bestehende Tendenzen zur Selbstzensur und schließen kritische Stimmen systematisch aus dem öffentlichen Diskurs aus.
Besonders treffend ist Rostalskis Beobachtung zu den Übersteuerungsmechanismen: "Menschen neigen zu Übersteuerungen, um regelkonformes Verhalten zu erreichen." Im Zusammenhang mit Meinungsäußerungen führt dies zu Selbstzensur – und zwar auch bei Aussagen, die rechtlich vollkommen zulässig wären. Genau dieser "Chilling Effect" ist ein zentrales Wirkungsziel von SLAPPs und wird durch die von Rostalski beschriebenen strafrechtlichen Verschärfungen noch verstärkt.
Demokratie braucht den offenen Diskurs
In ihrem Fazit trifft Rostalski einen Punkt, der auch für unsere Arbeit bei der No SLAPP Anlaufstelle zentral ist: "Die freiheitliche Demokratie ist auf den offenen Diskurs als ihr Herzstück angewiesen." Es bestehen ernsthafte Zweifel, ob die Demokratie durch immer weitere strafrechtliche Eingriffe in die Meinungsfreiheit tatsächlich resilienter wird.
Vielmehr droht das Gegenteil: Wenn staatliche Eingriffe und individuelle Empfindlichkeiten das Gespräch hemmen, finden relevante Argumente kein Gehör mehr, ganze Themen werden ausgespart und Sprecher aus dem Diskurs ausgeschlossen. Die Diskursvulnerabilität erweist sich als "Hemmschuh für eben jene freien Deliberationsprozesse, die so essenziell für das demokratische Miteinander sind."
Rostalskis Analyse der "Zugriffe auf die Meinungsfreiheit" bietet wichtige Einsichten für alle, die sich mit dem Schutz der Presse- und Meinungsfreiheit beschäftigen. Sie zeigt, dass die von uns beobachteten SLAPPs und andere rechtliche Einschüchterungsversuche in einem breiteren gesellschaftlichen Kontext zu sehen sind – einer Gesellschaft, die insgesamt vulnerabler im Umgang mit Kritik und abweichenden Meinungen geworden ist.
Für die No SLAPP Anlaufstelle unterstreicht dies die Notwendigkeit, nicht nur einzelne Betroffene zu unterstützen, sondern auch auf strukturelle Veränderungen hinzuwirken: Wir brauchen eine Gesellschaft, die offener und widerstandsfähiger gegenüber kritischen Stimmen ist – und einen Rechtsstaat, der die Meinungsfreiheit als zentrales Gut einer demokratischen Gesellschaft begreift und schützt.